johannaschloesser
Bewegungschor
Aktualisiert: 26. Jan.
In meiner Recherche habe ich das Genre Bewegungschöre als künstlerisches Format untersucht und entdeckt, dass sie ursprünglich als soziales Phänomen und politische Praxis entstanden sind und oft als Ausdrucksform für politische Forderungen und Botschaften in Protesten und sozialen Bewegungen verwendet wurden. Ich habe mich gefragt, wie diese Praxis genutzt werden kann, um aktuelle gesellschaftliche Themen aufzuzeigen und zu reflektieren, ohne politisch oder kriegsbezogen zu sein, insbesondere für ein junges Publikum im theatralen Raum.
Im Rahmen meiner Recherche - "Capture, move and play” - habe ich in der ersten Phase meiner Recherche das Genre Bewegungschöre entdeckt. Ich habe es als künstlerisches Format für meine Arbeit analysiert, reflektiert und neu gedacht. Aus welchen Ansätzen haben sich Bewegungschöre entwickelt? Was waren die Merkmale? War ein Bewegungschor immer politisch? Auf diese Aspekte bin ich gestoßen: Bewegungschöre, auch als "mass choreography" oder "mass dance" bekannt, entstanden in den 1920er Jahren als soziales Phänomen und politische Praxis. Rudolf von Laban hat in dieser Zeit die Aufgaben des Bewegungschores definiert, mit dem Ziel, die allgemeine Gesundheit zu fördern und Laien in einen künstlerischen Prozess zu involvieren. Die Aktivitäten im Bewegungschor sollten ein Gegengewicht zu den mechanisierten und festgelegten Bewegungsabläufen des Alltags bieten. Das Ziel war auch, dass Arbeiter sich von ihrer Arbeit erholen können und dass der Bewegungschor zu einer feierlichen Erhebung beitragen sollte. Laban betonte, dass die primäre Aufgabe der Bewegungschöre die Gesamterhöhung des Menschen ist, die geistige und seelische Momente aufweist und dass der Bewegungschor dazu beitragen sollte, einen grundlegenden Sinn für die eigentliche Menschwerdung wach zu erhalten und immer stärker leuchten zu lassen.

(Foto aus dem Gleisner-Nachlass, Deutsches Tanzarchiv Köln)
Dahingegen entwickelten die Bewegungschöre wie "Masse Mensch", "Rotes Lied", "Flammende Zeit" oder "Erweckung der Masse" utopische Entwürfe einer anderen Gesellschaft und wollten auch das Publikum zu Tänzern machen. Sie waren oft Teil von politischen Protesten und sozialen Bewegungen und dienten als Ausdrucksform für die Forderungen dieser Bewegungen. Ein bekanntes Beispiel für einen Bewegungschor ist die Choreographie "The Red Army is the Strongest" von Vasily Zhukovsky, die von der sowjetischen Armee während des Zweiten Weltkriegs aufgeführt wurde. Diese Choreographie betonte die Stärke und Solidarität der sowjetischen Armee und diente als Propagandainstrument für den Kriegszweck.
Insgesamt sind Bewegungschöre eine einzigartige Form der kollektiven Ausdrucksweise, die sowohl künstlerisch als auch politisch von großer Bedeutung sind. Sie ermöglichen es den Teilnehmern, ihre individuellen Bewegungen in einen größeren Kontext einzubetten und gemeinsam etwas zu erschaffen, das größer ist als die Summe seiner Teile. Auch heute gibt es Vertreter:innen für Bewegungschöre. Ein Beispiel ist die Performance-Künstlerin und Choreografin Liz Lerman, die in den 1970er Jahren damit begonnen hat, Bewegungschöre zu entwickeln, die sich an ein breites Publikum richten. Sie gründete die "Healing Wars" Performance, die sich mit den Auswirkungen des Krieges auf Individuen, Gemeinden und Nationen auseinandersetzt. Aber warum beinhalten Bewegungschöre immer wieder Politik und Krieg? Dies lässt sich aus ihrer Entstehungsgeschichte herleiten, weil sie ursprünglich als soziales Phänomen und politische Praxis entstanden sind. Sie betonten den gemeinschaftlichen Aspekt des Tanzens und verbanden individuelle Bewegungssequenzen mit Gruppenchoreographien. Diese Choreographien wurden oft verwendet, um politische Forderungen und Botschaften auszudrücken und waren Teil von politischen Protesten und sozialen Bewegungen. In der Vergangenheit wurden Bewegungschöre oft als Propagandainstrumente für Kriegszwecke verwendet. Aus diesen Aspekten folgt die Frage: Kann ein Bewegungschor unpolitisch sein? Und haben sie noch heute Ihre Berechtigung?
Die Antwort ist: Ja, ein Bewegungschor kann auch einfach als künstlerische Performance verstanden werden, die keine politischen oder sozialen Botschaften vermitteln. Sie können auf eine bestimmte Musik oder ein bestimmtes Thema abgestimmt sein, aber ihre Hauptfunktion ist es, das Publikum zu unterhalten und zu beeindrucken. Ein Bewegungschor kann auch rein sportlich sein, wie z.B. ein Synchronschwimmteam, das eine choreografierte Performance auf dem Wasser aufführt. Es kommt also auf den Kontext und die Intentionen der Organisatoren an, ob ein Bewegungschor politisch oder unpolitisch ist.
Basierend auf der Entwicklungsgeschichte und den Punkte, die Rudolf von Laban für Bewegungschöre definiert hat, stellt sich in meiner Recherche die Frage, wie die künstlerische Praxis von Bewegungschören heutzutage genutzt werden kann, um aktuelle gesellschaftliche Themen aufzuzeigen und zu reflektieren, ohne politisch oder kriegsbezogen zu sein, und wie ein Konzept entwickelt werden kann, um ein junges Publikum im theatralen Raum einzubeziehen.
Quelle:
Rudolf von Laban: Vom Sinn der Bewegungschöre, in Die Schönheit, 1926, Heft 2

"Capture, move and play" ist eine Recherche, deren Ergebnisse in diesem Blog skizziert werden. Das Projekt ist gefördert von Fonds Daku #TakeHeart aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von Neustart Kultur.